Letzter Tag in Kathmandu – Zwischen uralten Traditionen und dem lebendigen Chaos der Stadt

Diesmal begann unser Tag nicht mit einem Sonnenaufgang. Wir ließen ihn kommen. Langsam.
Vielleicht, weil der Körper schon ahnte, dass sich etwas zu Ende neigt. Oder weil Kathmandu einen dazu bringt, den Takt zu drosseln – weil man sonst untergeht.

Gegen 10:30 Uhr holte uns unser Guide am Hotel ab. Keine langen Wege, kein Auto. Nur unsere Füße und die Stadt.
Die Gassen empfingen uns mit Musik – ein kleiner Umzug bewegte sich durch die engen Straßen, begleitet von Trommeln und Stimmen.
Kathmandu lebt, immer, aber heute schien es zu tanzen.

Die allgegenwärtige Präsenz der Götter

Wir ließen uns treiben, durch enge Schneisen zwischen Mauern, durch das Labyrinth, das diese Stadt ist. Und wie schon so oft auf dieser Reise, begegnete mir auch heute wieder Kali.
Der Kali-Tempel – gewaltig, wachsam – öffnet nur einmal im Jahr, im Oktober. Wir waren nicht zur rechten Zeit hier, aber vielleicht doch im richtigen Moment.

Hinter jeder Ecke liegt ein Altar.
Hinter jeder Tür ein Gebet.
Kathmandu ist keine Stadt, die man einfach durchquert.
Sie hält dich fest.
Mit all ihren Reizen, mit all ihrem Lärm, mit all ihrer Schönheit.

Der Körper reagiert – und erzählt

Und dann: Hitze. Drückend, trocken.
Die Luft liegt schwer auf der Haut, schwer in der Lunge.
Nach Tagen in grüner Dschungelweite und auf weichen Waldpfaden spüren wir die Stadt umso deutlicher.
Staub, Abgase, das Atmen fällt schwer – besonders, wenn man sensibel ist. Besonders, wenn das Nervensystem mehr wahrnimmt, als es verarbeiten kann.
Kathmandu ist ein Rausch. Und ein Reiz.
Und gleichzeitig: ein Spiegel.

Ein Platz voller Geschichten

Wir traten hinaus auf den Platz vor dem alten Königspalast.
Links und rechts: Tempel, steinerne Stufen, kunstvolle Schnitzereien – ein Panorama aus Geschichte und Glauben.
Die Sonne stand hoch, die Hitze lastete schwer auf den Steinen, aber wir gingen langsam. Schauten. Staunten.

Bel Bibaha – verheiratet mit einem Apfel

Dann wies unser Guide auf eine kleine Gruppe am Rand des Platzes.
Da saßen sie – Mädchen, kaum älter als sieben, acht, neun Jahre.
In goldene Stoffe gehüllt, geschmückt mit Blumen, bemalt, in stiller Würde.

„Sie heiraten heute“, sagte unser Guide.
Nicht Männer, sondern einen Apfel. Einen Bel.
Ein Symbol, stark und still.

Bel Bibaha – die rituelle Heirat mit der Frucht des Bel-Baumes.
Ein uralter Brauch, entstanden aus einem dunklen Teil der Geschichte.
Früher, als Witwen verbrannt wurden, war dieses Ritual ein Schutz:
Wer mit dem Bel verheiratet war, galt nie als richtige Witwe.

Ein kleiner Apfel – als lebenslanger Ehemann, als Schutzschild gegen ein System.
Die Mädchen saßen da, ernst, fast feierlich. Ein Moment zwischen Kindsein und Tradition.

Die Kumari – Göttin hinter Fenstern

Wir standen ganz nah. Ich hielt den Atem an.
Und plötzlich tippte uns unser Guide an. Leise.
„Kommt“, sagte er. „Wir müssen uns beeilen. Die Kumari zeigt sich gleich.“

Wir wussten nicht, was er meinte. Kumari? Was ist das? Eine Göttin? Ein Ritual?

Er führte uns nicht weit – das Haus stand direkt am Platz, neben dem alten Königspalast. Eine kleine Tür aus dunklem Holz, fast zu unscheinbar für das, was dahinter wartete.
Wir traten hindurch – hinein in einen stillen Innenhof, fast abgeschirmt von der Hektik draußen.

Über uns: kunstvoll verzierte Fenster, geschnitzt in dunkles Holz.
Und dann – in der Mitte – öffnete sich eines davon.

Ein Mädchen erschien.

Gerade, aufrecht, mit einem Blick, der alt wirkte in einem jungen Gesicht.
Sie stand da wie eine Statue. Nur ihr Blick bewegte sich. Stark. Prüfend. Wach.
Vielleicht eine Minute, vielleicht weniger.
Dann verschwand sie wieder – als hätte sie sich nie gezeigt.

Unser Guide erklärte uns später: Die Kumari ist ein lebendes Kind, das in einem streng geregelten Auswahlverfahren als Inkarnation der Göttin Taleju (eine Form der Kali) bestimmt wird.
Sie gilt als heilig, als Trägerin göttlicher Energie. Verehrt von Gläubigen, Königen, Pilgern.
Solange sie keine Menstruation hat oder krank wird, lebt sie im Kumari Ghar – zurückgezogen, abgeschirmt, fast wie in einem Tempel.
Wenn ihre Zeit als Kumari endet, kehrt sie in ein normales Leben zurück.
Ein Alltag, der für viele nie wieder wirklich „normal“ wird.

Und ja – sie wirkte wie ein Kind.
Ein Mädchen, das vielleicht lieber spielen würde.
Aber dort stand, aufrecht und unbewegt, für die Gläubigen eine Göttin.

Ein göttlicher Hauch.
Ein menschlicher Schatten.
Ein Moment, den ich nicht vergesse.

Markttreiben und Tee – das Leben tobt weiter

Hinter den Tempelanlagen öffnete sich der Basar.
Ein Meer aus Stimmen, Farben, Gerüchen.
Motorräder drängen sich hupend durch Menschenmengen, als wäre das normal.
Es riecht nach Gewürzen, Öl, Abgasen und Gebratenem. Und gleichzeitig nach Leben.

Hier wird alles verkauft – Töpferwaren, Teller, Tücher, Saris, Pfannen.
Ein Markt, der sich nicht inszeniert, sondern einfach existiert.
Unaufhörlich.
Unübersichtlich.
Unvergesslich.

Ein stiller Teemoment im Chaos

Langsam wurde es etwas ruhiger in den Straßen. Die Gassen wurden zäher, das Tempo fiel ab – und plötzlich standen wir vor einem kleinen Teeladen.
Ich blickte hinein.
Und fragte – wie so oft in den letzten Tagen – nach Oolong-Tee.

In Nepal ist das keine Selbstverständlichkeit. Hier liegt der Fokus auf grünem und schwarzem Tee. Oolong ist selten – besonders guter.
Aber für die Nepalbox sollte es genau dieser Tee sein.
Und tatsächlich: Die Frau hinter der Theke nickte.

Wir traten ein.
Die Luft war still, fast kühl im Vergleich zum Basar draußen.
Ein Teegeruch, warm und vertraut, füllte den Raum.
Wir sahen uns um, betrachteten die Blätter, die Farbe, den Glanz.
Und kauften. Für euch. Für die Box. Für das, was bleibt, wenn der Trubel längst verklungen ist.

Zurückziehen, loslassen, nochmal aufbrechen

Es war mittlerweile zwei Uhr nachmittags. Zeit für eine Pause.
Zurück ins Hotel.
Kurz schlafen. Die Hitze ausklingen lassen.
Den Lärm draußen lassen.
Einmal durchatmen.

Und dann: Noch ein letztes Mal zurück in die Gassen.
Die letzten Andenken.
Die letzten Blicke.
Die letzten Atemzüge dieser Stadt.

Kathmandu verabschiedet sich nicht leise

Kathmandu verabschiedet sich nicht leise.
Aber tief.

Und ich nehme mehr mit, als ich in meinen Koffer packen kann.

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