Das was bleibt.

Ich sitze hier mit einer Schale Matcha am Schreibtisch. Eigentlich wollte ich am Teetisch schreiben. Doch immerhin ist Tee in meiner Schale.

Ein Teil der Dunkelheit

Tee, kein Kaffee. Ich laufe den Erinnerungen hinterher, die Kaffee in mir weckt. Ich bin bei meinen Großeltern, es ist früh am morgen, ich muss vielleicht zur Schule. Jedenfalls ist es noch dunkel, wie ich durch das kleine Fenster in der Küche sehen kann. Der Duft eines verbrannten Streichholzes liegt in der Luft, Oma hat immer eine Kerze angezündet. Das Streichholzpäckchen steckt immer in einem kleinen Wandbehang am Fenster, an dem ein Glöckchen hängt. Ich weiß genau wie es klingelt, wenn sie das Päckchen herausnimmt, wie es klingt, wenn sie die Hölzer zurück steckt. Und es liegt der Duft von Kaffee in der Luft. Geborgen, sicher, gemütlich. Ein guter Start in den Tag. Voller Wärme und Liebe. Ein Start voller Energie. 

Diesen Erinnerungen laufe ich hinterher und bin zur Kaffeetrinkerin geworden. Obwohl ich genau weiß, dass die Erinnerungen nur eine Illusion sind und dass mir so viel Kaffee nicht gut tut. Ich bin so gut darin geworden, Erinnerungen hinterher zu rennen.

In einigen Momenten laufe ich zurück. In vielen anderen laufe ich einfach weg. Möchte die Augen schließen, nicht mehr öffnen. Liege morgens im Bett und traue mich nicht unter der Decke hervor zu kriechen. Es ist alles zu viel. Die Welt ist zu laut. Die Welt ist zu schnell. Die Welt hat keinen Platz für mich.

Antriebslos, nur wie eine Hülle, ein Schatten von dem, was ich bis vor einigen Monaten als „ich“ bezeichnet habe. Ich stehe auf und tue Dinge, doch wofür? Es ist alles leer und ohne Sinn, irgendwann gehe ich doch so oder so. Eine Frage der Zeit.

Tee im Gespräch

Ich habe immer gerne Tee getrunken. Die letzten Monate war die Gong Fu Cha viel zu oft Teil von Streitgesprächen. Kontruktiven und destruktiven. Tee hilft mir in beiden Fällen fokussiert zu bleiben. Nicht unbedingt sachlich zu bleiben, manchmal geht das einfach nicht mehr. Doch er hilft dabei, nicht wegzulaufen. Ich bleibe am Teetisch sitzen und stelle mich den Dingen, die kommen. Es ist etwas Trennendes zwischen mir und meinem Gesprächspartner – der Teetisch. Und gleichzeitig ist etwas Verbindendes zwischen uns: Der Tee. Wir trinken beide den gleichen Tee, in der gleichen Temperatur und Stärke. An dieser Stelle bekommt die Kanne der Gerechtigkeit eine tragende Bedeutung. Wir sind gleichberechtigt. Jederzeit verbunden. Ob wir hier am Teetisch sitzen oder nicht, wir sind alle eins. Das lehrt die Teezeremonie, wenn man sich darauf einlassen kann. 

Tee trägt Emotionen. Manchmal will er einfach nicht schmecken. Manchmal ist er zu lasch, manchmal zu stark und zu bitter. Manchmal findet man alles innerhalb einer Teezeremonie, mit einem Tee. Oft ist er ein Spiegel des Gesprächs. Er kann zeigen an welcher Stelle nachgehakt werden sollte und es tiefer werden muss. An welchen Stellen jemand verletzlich ist. Viel kann man erkennen wenn man beobachtet, wie der andere den Tee trinkt. Ob er ihn überhaupt trinkt, ob er verharrt oder eilig schluckt. Der Tee kann helfen, die Verbindung herzustellen und die Wahrnehmung des Gegenüber zu sensibilisieren.

Ein Teil des Lichts

Dafür muss ich den Weg jedoch erst einmal an den Teetisch finden. Ein Glück, dass er von der geduldigen Sorte ist. Hätten wir uns täglich verabredet, ich hätte ihn oft versetzt. Dabei weiß ich genau, dass es mir hilft dieses tägliche Ritual aufrecht zu erhalten. Es ist wie mit dem Meditieren – ich weiß: Starte ich meinen Tag mit einer Meditation gebe ich ihm gleich früh morgens eine positive Wendung. Setze ich mich an den Teetisch lade ich mich auf mit positiver Energie, werde ruhiger und ausgeglichener. Und wie beim Meditieren ist es oft so: Je mehr ich diese Rituale eigentlich bräuchte, weil alles zu schnell, zu laut, zu viel ist, desto mehr rede ich mir ein „keine Zeit“ zu haben. Schlimmer noch: „Keine Lust, bringt doch eh nichts“. Da spricht die Dunkelheit aus mir, greift um sich und zieht mich immer tiefer in einen Strudel aus Überforderung, Angst und tiefer Traurigkeit.

Tee lehrt Disziplin und Flexibilität

Wenn man Tee trinken möchte muss man die perfekte Wassertemperatur erreichen, um ihn aufzugießen. Die Zeit abpassen, ihn aus der Kanne zu gießen und achtsam genug sein, ihn in die kleinen Schälchen zu verteilen. Gleichzeitig muss man flexibel genug sein sich auf den Tag einzulassen, auf die Stimmung, die Umgebungstemperatur, die Wasserqualität und besonders den Menschen, für den man den Tee bereiten möchte. Manchmal ist man selbst derjenige, für den man besonders viel Flexibilität mitbringen muss und die Bereitschaft, sich auf sich selbst einzulassen. Disziplin kann bedeuten sich einmal am Tag Zeit zu nehmen und einen Tee am Teetisch zu trinken. Flexibilität kann bedeuten, dies nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt tun zu müssen, vielleicht aber einen Tee in den ersten Stunden des Tages zu trinken.

Tee ist Ruhe, Ausgleich und Fokus. Tee ist Abenteuer und Veränderung

Tee kann beides. Das Ritual der Zubereitung gibt Kraft, es ist vertraut, es lässt Ruhe einkehren. Und auch wenn die Zubereitung immer gleich ist: der Tee lebt, er ist nie ganz gleich. Ich bin nie ganz gleich. Tee hat mich gelehrt Veränderungen zuzulassen. Neues zu probieren. Nicht jeder Tee schmeckt sofort: Manch einer zieht zunächst alles in mir zusammen und entpuppt sich erst bei mehrmaligem Probieren als eine Geschmacksexplosion oder als wohltuende Wärme. Sich einlassen lohnt. Ausgehend von dem sicheren Boden des Rituals, der Teezubereitung, kann ich mich an unbekannte Sorten wagen. Ausgehend von einem sicheren Umfeld kann ich dieses Leben entdecken. 

Wie im Teeblatt, es ist immer alles da: Bitterkeit und Süße, fruchtig und holzig, Ruhe und Abenteuer, Disziplin und Flexibilität, Konstanten und Veränderung. Ich brauche beides, um den jeweiligen anderen Pol überhaupt erkennen zu können. Ich brauche Licht, um Dunkelheit zu kennen. Ich brauche diese dunkle Zeit, um wieder neues Licht zu entdecken. Es ist immer alles da. Entscheide ich mich, den Teetisch aufzusuchen, wird mir alles begegnen und das ist gut so. Tee kann viel lehren. Tee tut so unglaublich gut. Ich hatte es nur vergessen.  

Rituale dürfen sich wandeln, neuen Möglichkeiten angepasst werden. So komme ich vielleicht wieder häufiger an den Teetisch. Schaffe mir alte Rituale in neuem Gewand. 

Das was bleibt, ist das, was ich zulasse. Das was bleibt, darf sich verändern. Und ab und an darf auch wieder das Glöckchen in meinem Kopf klingeln und der Kaffeeduft in meine Nase ziehen. Es ist okay. Es bleibt. Es stützt. Es darf nur nicht zurück halten.

Beitrag Teilen